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Die Perle

Die Perle

Auch wenn wir Deutschen nicht gerade als extrovertiertes Volk bekannt sind, muss man feststellen, dass wir alles Extrovertierte jetzt, da es gerade nicht möglich ist, durchaus vermissen. Wie gerne hätten wir Kontakte, Interaktion und Teilnahme am kulturellen Leben! Wie sehr zieht es uns hinaus und hin zueinander! Wie sehr werden wir es genießen, wenn es wieder soweit ist! Aber vorläufig müssen wir mit einem eher „introvertierten“ Lebensstil vorlieb nehmen – was nicht jedem leicht fällt. Manche lieben es, allein für sich zu sein (gerne auch etwas länger), andere mochten das noch nie und jetzt erst recht nicht.

Zugegeben: Mit Unterscheidungen wie diesen befinden wir uns hart am Klischee. Sie erinnern auch sehr an das Bild, das man landläufig von einem Künstler hat. Da wird des Öfteren mit Stereotypen jongliert, wenn dieser Maler als „introvertiert“ bezeichnet wird, jene Tänzerin als „extrovertiert“, dieser Autor wie ein „Eremit“ lebt und jener Musiker gern „in der Menge badet“. Unsere Charaktere unterscheiden sich und jeder drückt seine Kunst anders aus. Aber erleben wir nicht alle immer wieder einen ähnlichen künstlerischen Prozess, dass etwas Innerliches nach außen will und sich dann je nach Naturell, Stimmung, Allgemeinlage, Kunstform, Medium oder Material so oder so äußert?

Freunde und Kollegen stehen durch Home-Schooling, Home-Office etc. vor enormen Herausforderungen; anderen steht mehr freie Zeit als sonst zur Verfügung. Zeitfenster füllen sich, andere werden frei. Vielleicht macht der eine oder andere die Feststellung, dass auch in diesen schwierigen Monaten Reflexion möglich ist und Prozesse in uns laufen, die uns sonst nicht auffallen. Auch wenn die Zeiten nicht einfach sind: Oft können oder müssen wir uns freiwillig oder unfreiwillig persönlichen und künstlerischen Fragen stellen, die schon länger in uns bohren, z.B. der Frage nach der eigenen Identität als Künstler; der Frage nach Erfolg und Misserfolg; der Frage nach dem Vergleichen mit anderen usw.. Sich damit zu beschäftigen ist nicht immer angenehm, aber so können Dinge reifen und zukunftsfähige Antworten gefunden werden.

Einer Auster sieht man von außen nicht an, ob eine Perle in ihr heranreift. Es gibt verschiedene Theorien darüber, was diesen Prozess auslöst. Er ist jedenfalls langwierig und verläuft im Verborgenen. Die Perle wächst im Lockdown heran. Perlmutt, diese irisierende, glänzende Substanz, wird im Inneren der Auster abgesondert und bildet Schicht für Schicht ein kleines rundes Gebilde von unschätzbarem Wert. Das kann uns zu einem etwas anderen Blick auf einen inneren „Lockdown“ verhelfen: Zeit und Raum zu reifen; gesegnete Unausweichlichkeit; heilsame Konfrontation; Ideen, die in Schichten neue Perspektiven aufbauen; ein Ort der unlogischen Geborgenheit, an dem göttliche Nähe und Inspiration mit dem so wichtigen Faktor Zeit etwas ungemein Wertvolles in uns entstehen lassen, das wir später, wenn wir die Auster wieder verlassen dürfen, nicht mehr missen wollen.

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